Rebecka Edgren Aldén - Die achte Todsünde
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Rebecka Edgren Aldén - Die achte Todsünde
 
Rebecka Edgren Aldén - Die achte Todsünde
Hier können Sie Probelesen in einem Buch der Autorin Liselott Willén.
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Gebundene Ausgabe
384 Seiten
btb Verlag
Erscheinungsdatum:
Februar 2004
ISBN: 3442750830
Übersetzung:
Christel Hildebrandt
Orginaltitel:
"Sten för sten"
Kurzbeschreibung

Åland im Herbst. Sturmzeit. Die Stimmung von Kjerstin, Lehrerin am örtlichen Gymnasium, ist auf dem Tiefpunkt angelangt. Einer ihrer Schüler tyrannisiert sie, ihr Rektor schikaniert sie, und die meisten ihrer Kollegen sind einfach nur missgünstig. Kaum zu glauben, dass es noch schlimmer geht. Aber das tut es: Denn ihr Mann hat offensichtlich eine Affäre. Kjerstin weiß nur eins: Sie muss sich endlich wehren. Einer muss sterben. Nur wer? Kjerstin meldet sich bei einem Kurs zur Stärkung des Selbstvertrauens an, acht Frauen treffen sich jeden Donnerstag, um zu lernen, wie sie besser mit ihrem Leben zurechtkommen. Der Kursleiter – ein mysteriöser Mensch, der nur wenig von sich preisgibt – erklärt ihnen, dass sie ein Ziel brauchen und dann den Weg dorthin suchen müssen. Kjerstin braucht nicht lange, um das ihre zu finden: sich selbst will sie nicht mehr umbringen, seit sie den Kurs besucht. Auch Jørgen, ihr Mann, soll leben. Sie wählt die Rivalin. Aber wer ist die Frau? Und was hat ihr Kursleiter zu verbergen? Könnte es sein, dass alles ganz anders ist, als sie denkt?

Ein packender Krimi von einer neuen Starautorin aus Schweden: Liselott Willén, gefeiert als Großmeisterin des psychologischen Spannungsromans.

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Leseprobe

Der erste Stein

Die Zeit. Sie verriet ihn. Die Zeit, die vergangen war, seit er mich das letzte Mal angefasst hatte. Es gibt so viele Arten der Erinnerung. Jedes Sinnesorgan speichert Empfindungen: Bilder, Düfte, Geräusche. Auch die Haut hat ein Gedächtnis. Eine Erinnerung verblasste, und zwar das Gefühl seiner Hände.
Ich bin allein in unserem Haus am Hang. Zweimal hat das Telefon geklingelt, aber ich bin nicht drangegangen. Ich liege auf dem Plüschsofa im Fernsehzimmer, eine Decke über den Beinen. Die Decke ist rot und rau. Sie riecht muffig. Ein Paar braune Lederpantoffeln schauen am Fußende heraus. Sie sind warm und feucht, das Lammfell kitzelt zwischen den Zehen. Wenn ich mich drehe, um meine Stellung zu verändern, wacht die Katze auf, die zwischen meinen Beinen liegt.
Ich denke an O. Er war es, er hat alles ins Rollen gebracht. Ich erinnere mich, wie heiß es an jenem Abend war, als ich das erste Mal zu unseren Treffen geradelt bin. Es war so schwül, dass man kaum atmen konnte, und der Geruch der Algen war ganz intensiv. Ich weiß noch, dass er mir Angst einjagte. Weil ich das Gefühl hatte, er sieht mehr als andere. Vor ihm konnte ich mich nicht verstecken.
O war es, der mich dazu gebracht hat, das anzufangen, was ich jetzt beende. Das, was ich ein Spiel nannte. Ein Gedankenspiel. Was dann zu etwas ganz anderem wurde, das mich nicht mehr losließ.
Sie ist mir aufgefallen an diesem Abend. Ich glaube, es war ihr Haar. Oder die Augen. Sie lachte mich an. Vielleicht ist sie mir deshalb aufgefallen, weil sie mich ansah. Mich erkannte. Keine der anderen kam so auf mich zu.
Wenn ich versuche, mir ihr Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, entgleitet es mir. Ich sehe nur Teile davon, kleine Details, aber das Ganze kann ich nicht fassen. Was macht die Schuld mit dem Gedächtnis? Sie verändert es nicht, sie verfälscht es. Und radiert es aus.
Das Ganze ist jetzt schon lange her. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich die Frau noch kenne, die in der Hitze des Altweibersommers auf dem Rad fuhr, auch wenn ich es war. Sie trug meinen Körper, meine Kleidung: das beige Kleid mit den marmorierten Knöpfen, das der Wind hochhob, so dass ich die ganze Zeit gezwungen war, es hinunterzudrücken, damit meine Beine nicht zu sehen waren.

  Liselott Willén bei schwedenkrimi.de
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Leseprobe

Ich habe gesagt, dass es schon lange her ist, aber das stimmt nicht. Es sind jetzt gerade mal vier Monate vergangen.
Draußen ist es dunkel geworden. Im Licht der Außenlampe ist der Schnee auf dem Balkongeländer deutlich zu sehen. Schnee, frisch gefallen. Auch wenn der Winter jetzt gekommen ist, trage ich noch die Geschehnisse des Herbstes in mir. Ich habe alles in dem Schreibheft mit dem ziegelroten Umschlag notiert. Es existiert nicht mehr, aber meine Hand erinnert sich noch daran, wie der Stift über das Papier glitt, erinnert sich an das, was ich geschrieben habe, Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe.
Ich weiß mit Sicherheit nur noch eines: dass es vorbei ist und dass ein Mensch tot ist.
Der September war ungewöhnlich heiß. Es schien, als habe der Sommer die ihm zugedachte Zeit als zu kurz angesehen und zögere jetzt, sich zu verabschieden. Jeder Ansatz von Wetterumschwung wurde niedergeschlagen und mit neuen Hitzewellen überdeckt.
Deshalb blühten die Algen länger als üblich und konnten eine große schleimige Fläche bilden, zäh fließende Massen, die ins Blaugrün tendierten, ein schwelender Matsch zwischen den Strandfelsen, nach Verwesung riechend, als zeige sich hier schon der Tod.
Sie sandten dort, wo sie lagen und gegen die Felsen rieben, ein merkwürdiges Geräusch aus, fast wie ein heiseres Lachen. Aber nur wenige hörten es.
Die Frau auf dem Fahrrad, hundert Meter davon entfernt, hörte es nicht. Sie umklammerte mit einer Hand das Lenkrad, mit der anderen versuchte sie, ihr beigefarbenes, flatterndes Kleid unten zu halten. Das kastanienfarbene Haar - eine Viertelstunde zuvor sorgsam zu einem ordentlichen Pagenkopf gekämmt - war durcheinander geraten. Es war sehr heiß. Sie spürte, wie ihr der Schweiß von den Achselhöhlen hinunter zum BH-Rand lief, hatte aber keine Zeit, langsamer zu fahren.
Zwischen ihr und dem Wasser befand sich die östliche Abfahrt der Stadt, auf der die Dorfbewohner zu dieser Zeit in ihren Autos auf dem Weg nach Hause waren. Der Lärm erstickte alle anderen Geräusche. Er verebbte erst, als sie hinter einem lang gestreckten Gebäude schräg gegenüber dem Friedhof in den Lärmschatten kam.
Das Lehrrestaurant. Dort hatten sie einmal gegessen, anfangs, kurz nachdem sie hergezogen waren. Jörgen hatte einen Whisky zum Kaffee genommen und, als sie nach Hause gekommen waren, auf der Treppe zum ersten Stock seinen Körper an den ihren gepresst.
War das ein halbes Jahr her, ein Jahr? Sie wusste es nicht mehr.
Es war jedenfalls lange bevor sie im Badezimmer stand, in der Hand die Schachtel mit den Schlaftabletten. Aber weder Haut noch Augen ließen sie es vergessen.
Drei Kilometer Entfernung waren es zwischen dem Haus auf Östernäs und dem Ort, wo sie sich treffen wollten. Sie stellte das Fahrrad vor einem grauen Steinhaus ab. Als einziges Lebenszeichen war ein flackerndes Licht in einem Fenster im zweiten Stock zu sehen. Nicht ein Mensch war zu entdecken, aber als sie die erste Treppe erklommen hatte, näherte sie sich leisem Stimmengemurmel. Der Raum, in den sie trat, war kalt und nichts sagend, genau wie der Rest des Gebäudes. Ein altes Vorratslager mit gemauerten Wänden und gewaltigen Dachbalken. Es sollte zu Wohnungen umgebaut werden, aber momentan diente es als Seminarraum. Vor den hohen Fenstern hingen keine Gardinen, und außer einem Kreis einfacher Holzstühle in der Mitte des Raums war es unmöbliert. Diese Leere verursachte eine Akustik, die jeden Ausruf in ein stotterndes Stakkato verwandelte.
Ein Mann löste sich aus einer Gruppe von Frauen und kam auf sie zu. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Sein Körper war lang und sehnig, die Haut schimmerte goldbraun wie feuchter Sand. Ein schmaler dunkler Bart hatte seinen Ausgangspunkt an der Kinnspitze, pflanzte sich von dort in einem nach unten gerichteten Bogen fort und endete abrupt in Höhe des Adamsapfels. Die Augenbrauen waren hübsch gebogen, fast weiblich. Er blieb einen Meter vor ihr stehen.
»Kjerstin«, sagte er.
Ihr erster Eindruck war, dass er etwas Sicheres und Vertrautes an sich hatte, als hätten sie sich schon viel, viel früher einmal gesehen und jetzt endlich wiedergetroffen. Im nächsten Moment flößte er ihr Angst ein.


Buchtipp
Camilla Läckberg - Die Eishexe: Kriminalroman (Ein Falck-Hedström-Krimi 10)

Er betrachtete sie schweigend. Es schien, als habe er ein Messer in sie gebohrt, es dann wieder herausgezogen und warte jetzt auf ihre Reaktion. Sie war gezwungen, sich ihm gegenüber zu öffnen. Solange die Messerklinge sich in ihr bewegte, konnte sie nicht zurückweichen.
Du kennst das, dachte sie. Du weißt, warum ich hier bin. Sie suchte in seinem Gesicht nach einem Zeichen. Aber keine Regung verriet, was er von dem hielt, was er da vorfand. Er sezierte sie, schnitt das aus, was sie ausmachte, und legte es dann sorgfältig wieder zurück an seinen Platz. Es dauerte ein paar Sekunden, nicht länger. Aber was sie am meisten erschreckte, war das Gefühl des Verlusts, als es vorbei war.
Und wenn ich jetzt einfach gehe?, dachte sie.
Eine Hand auf ihrer Schulter. Seine Hand. Das Gefühl des Wiedererkennens überdeckte alles. Ließ den Gedanken, der von Flucht sprach, verblassen. Natürlich blieb sie. Sie hatte gar keine andere Wahl.
Dies war die erste Sitzung der Gruppe. Während des Herbstsemesters sollten sie sich jeden Donnerstag treffen: sie und noch sieben Frauen. Eine von ihnen, eine blonde Frau mit hochhackigen Schuhen und sanftroten Fingernägeln, warf ihr ein vorsichtiges Lächeln zu. Es gab noch eine andere blonde Frau, aber deren Gesicht war wie eine geballte Faust, geschlossen und unzugänglich. Die anderen bemerkte sie kaum. All ihre Konzentration war auf den Mann gerichtet, der sie begrüßt hatte, als sie ins Zimmer getreten war.
Er befand sich außerhalb des Stuhlkreises, wo sie saßen. Während er sprach, ging er langsam von einer zur anderen, streifte eine Schulter, einen Nacken, erwiderte ab und zu einen Blick. Seine Stimme war friedlich und melodisch.
»Ihr seid alle aus dem gleichen Grund hier«, sagte er. »Ihr verachtet euch selbst und das Leben, das ihr lebt. Ihr wollt das Leben nicht führen, wie ihr es jetzt führt. Und ihr fragt euch, wie es dazu gekommen ist, warum es gerade euch getroffen hat. Euch, die ihr doch nie jemandem auf die Füße getreten seid oder widersprochen habt, ihr, die ihr lieber geschwiegen habt und euren Stolz hinuntergeschluckt, als Gefahr zu laufen, eine Freundschaft zu verlieren. Ihr habt keine Feinde. Ihr seid dafür viel zu gut. Und jetzt versteht ihr nicht, warum ihr dennoch gescheitert seid. Ihr wollt wissen, zu welchem Zeitpunkt die Liebe zum Ich in Verachtung umgeschlagen ist. Es kann nicht behauptet werden, dass es euch an Feinden mangelt. Denn ihr habt alle einen Feind. Euch selbst.«
Er machte eine Pause, breitete die Arme aus.
Wieder dachte sie: Ich gehe.
Doch dann begriff sie, dass er bei ihnen allen an den Grund gerührt hatte und ihnen das, was er dort gefunden hatte, ins Gesicht schleuderte. Das war die Wahrheit, und sie war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Die Frau auf dem Stuhl neben ihr rutschte hin und her. Ihr Atem ging stoßweise, war voller Seufzer, ihre Kiefermuskeln angespannt. Kjerstin spürte, wie sie selbst mit hochgezogenen Schultern dasaß. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen, wollte ihm diese Genugtuung nicht bereiten.
Er lieh sich Stimme und Gestalt von denen, die sie verhöhnten und verachteten, von Wedman und John, von Johansson. Von denen, die ihr die Wahrheit hinterher warfen, als wäre sie nur Dreck, den sie nicht tragen wollten. Aber es war ihre Wahrheit. Es war ihr Dreck.
Also schwieg sie und öffnete sich ihm.
»Jetzt fühlt ihr euch verletzt«, sagte er. »Jede Einzelne möchte sich von ihrem Stuhl erheben und fortgehen. Aber wartet noch einen Augenblick! Denkt daran, dass ihr von mir gerade das hören werdet, vor dem ihr am meisten Angst habt. Ihr verbringt eure gesamte wache Zeit damit, euer wahres Ich zu verstecken. Sogar vor euch selbst. Und deshalb seid ihr hier. Darum geht es in diesem Kurs. Um das Selbstwertgefühl und euer Bild von euch selbst. Daran werdet ihr arbeiten, und ich werde euch das Werkzeug dazu geben.«
Er trat hinter sie. Wieder diese Hand, jetzt an der Außenseite ihres Arms, wie eine leichte Kühle.
»Glaubt mir, wenn ich euch sage, dass ihr es schaffen werdet.«
Eine Schweißschicht hatte sich zwischen das Holz des Stuhls und ihr Kleid gelegt. Es roch scharf im ganzen Raum. Die Angst von acht Menschen. Aber die Frau neben ihr saß jetzt entspannt da, mit halb offenem Mund, und auch sie selbst hatte die Schultern sinken lassen.
»Ich bitte um Nachsicht, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Aber das hat, wie alles andere auch, seinen Grund. Ich bin derjenige, der hier redet, der eure Gedanken in Worte fasst. Man kann sagen, dass ich sowohl Richter, Staatsanwalt als auch Verteidiger bin. Ein Name würde mich einschränken. Deshalb habe ich beschlossen, mich O zu nennen. Das bedeutet nichts, kann aber gleichzeitig alles bedeuten.«
Kjerstin formte unfreiwillig den Mund zu einem O. Die anderen taten es ebenso, als würden sie dadurch nicht nur den Buchstaben, sondern gleichzeitig auch den Mann erproben.
»Stellt euch das vor, was ihr in eurem Leben am allerwenigsten zu tun in der Lage seid, das Allerletzte, was ihr tun würdet, das, von dem ihr den allergrößten Abstand haltet. Also etwas, das ihr als abstoßend und unmoralisch betrachtet.«
Er machte eine Pause, gab ihnen Gelegenheit, den Gedanken auszufüllen, bevor er fortfuhr.
»Wenn ihr so weit seid, konzentriert nun all eure Gedanken darauf und lasst es zu einem Ziel werden. Wenn ihr danach strebt, ein derartiges Ziel zu erreichen, das eurer eigenen Person so fremd wie möglich ist, wird die negative Nabelschau auf euer Ich ein Ende haben, und ihr werdet stark werden. Aber|...«
Hier verstummte er. Die Hand hob sich von ihrem Arm. Die Frauen ihr gegenüber fixierten sie mit scharfem Blick. Sie hörte nur die tiefe Stimme hinter sich. Doch sein Aussehen hatte sich bereits in ihr festgesetzt. Sie musste ihm nicht gegenüberstehen, um ihn zu sehen.
»Vergesst nicht: Das Ziel ist einzig und allein eine Luftspiegelung, die euch den Weg weisen soll. Es soll niemals erreicht werden.«
Dankbarkeit. Genau diese empfand sie. Nicht wegen der Scham - die störte sie -, sondern wegen der Sturzwelle danach. Dieser Bewegung, die von ihm ausging und sich dann fortpflanzte und durch jahrzehntealte Ablagerungen drang. Was da an die Oberfläche stieß, war ein winziges bisschen Hoffnung. Kraft, weiterzugehen.
Einen Monat zuvor hatte sie sich das Verbotene gewünscht. Sie hatte den Tod in die rechte Hand genommen und war ihrem Gesicht im Badezimmerspiegel begegnet.
Das Jahr hatte eine Falte neben die andere auf ihre Haut gelegt, sie zu einer Landkarte der Gemütsbewegungen gemacht. Es gab Lachfältchen und Weinfalten, verwunderte Falten, Unzufriedenheitsrunzeln, lebensmüde und ekstatische Falten, beherrschte Falten, orgiastische Runzeln und noch mehr als zehn andere, die sie nicht mit Namen benennen konnte. Das war sie. Sie hatte langsam genickt, sich sonderbar zufrieden gefühlt.
Die Schachtel mit den Schlaftabletten war ihr aus der Hand geglitten.
Das war die Erinnerung, die in Augen und Haut saß.
Sie dachte daran, an den Tod. Vielleicht fasste sie genau zu diesem Zeitpunkt ihren Entschluss.
Die Stadt Mariehamn liegt auf einer schmalen Landzunge, die vom südlichen Teil der Insel hinausragt. Auf beiden Seiten fällt die Landschaft zögernd zum Wasser hin ab. Sie mieteten ein gelbes Holzhaus mit weißen Balken, das zwei Stockwerke und einen Keller umfasste. Auf der Vorderseite gab es einen kleinen Garten mit ein paar Johannisbeersträuchern und ein paar unbeschnittenen alten Apfelbäumen, die nur schlecht trugen. Das Haus lag auf der Ostseite der Landzunge, ein Stück auf einer Anhöhe. Von Mai bis September war das Wasser nicht mehr als ein ruhiges Rinnsal in dem grünen Mosaik zwischen den Baumstämmen, doch wenn Wind und Regen das Laub zu Boden rissen, schwoll das Rinnsal zu einem Sund an, und sie konnten sehen, wie die Wellen das Land auf der anderen Seite überspülten. Aber die Freiheit, die das Meer barg, wenn weit und breit nichts mehr zu sehen war, gab es nur vor der Hütte in Geta. Dort erstreckte sich das Wasser Meile um Meile, die endlose Ostsee.
Schon lange, bevor sie beschlossen, nach Åland zu ziehen, hatten sie ihre Sommer hier verbracht. Die Hütte hatte Jörgen von seinen Eltern geerbt. Fünf Jahre bevor sie geboren worden war, war er hier geboren worden.
Das waren ihre Voraussetzungen. Die Insel gehörte ihm von Anfang an. Sie gehörte nicht hierher.
Die Katze kam ihr in der Küche entgegen, streckte den Kopf vor und strich ihr am Bein entlang. Schwarz wie die Nacht war sie, und ihre Schwanzspitze ragte wie ein Wimpel schräg nach oben.
Eineinhalb Jahre früher: einen Steinwurf vom Tod entfernt, einer von fünf zappelnden Körpern in einem Sack. Die Nase gegen einen weitmaschigen, nach Zwiebeln stinkenden Stoff gedrückt, gegen das Licht, das wie geschmolzenes Eis durch die Stofffibern sickerte.
Kjerstin hatte die Hand in den Sack geschoben, herumgetastet und eins beim Nackenfell gepackt. Von fünf möglichen hatte sie eins ausgesucht.
Nachdem sie das zappelnde Katzenjunge herausgeholt hatte, hatte der Mann, ihr Nachbar in Geta, den Sack erneut zusammengeschnürt und ihn unter dem Gewicht seiner Hände auf den Boden der Wassertonne sinken lassen.
»Besser, als sie gegen die Wand zu schlagen. Das haben sie letztes Jahr gemacht.«
In Gedanken hatte sie gefühlt, was er gefühlt haben musste: ihre Bewegungen. Anfangs heftig, dann immer schwächer werdend. Und das Kätzchen in ihrem Arm hatte gejammert, weil sie es viel zu fest an die Brust drückte.
»Hungrig?«
Das Schnurren der Katze schwoll an und wieder ab, und beim Geräusch von Kjerstins Stimme drückte sich der Kopf fest gegen ihr Bein. Das Perlon riss in einer breiten Masche vom Knie bis hinunter zum Knöchel. Sie hockte sich hin und nahm die Katze unter den Arm.
Jörgen war nicht zu Hause, obwohl es schon nach acht Uhr war. Er habe heute Abend Bereitschaftsdienst, hatte er gesagt. Aber sie war sich dessen nicht sicher. Es waren schon Monate vergangen, seit er sie das letzte Mal angefasst hatte. Und davor: ein hastig überstandener Beischlaf einmal im Monat, zwischen Missionarsstellung und vorgebeugter Seitenlage variierend. Manchmal dachte sie, es würde an ihrem Körper liegen. Daran, dass er alterte und seine Zipperlein bekam: Krampfadern, Falten, Risse.
Eine wachsende Müdigkeit in den Bewegungen, weil die Muskeln nicht mehr wie früher gehorchten. Aber das war es nicht. Es gab Düfte, die nicht zu ihm gehörten, und Arbeitstage, die nie zu Ende gingen, und ein gesenkter Blick, wenn sie fragte.

Danke an den btb/random house Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.
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